Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten; so hat jede Sammlerin und jeder Sammler von Mannequins seine Lieblingsfiguren und bevorzugten Serien von bestimmten Herstellern. So soll es auch sein. Ich staune manchmal einfach über mich selber, wie sich Präferenzen auch verschieben und verändern können und mir plötzlich gewisse Schaufensterfiguren gefallen, für die ich zuvor kein Interesse zeigte. So ging es mir mit der Nr. 8813 von Hindsgaul aus der Serie „La femme“. Schon die Bezeichnung der Serie „La femme“, was schlicht soviel wie „Die Frau“ bedeutet, ist aus meiner Sicht zwar einprägsamer als andere Namen, aber ziemlich einfallslos. Da war sogar die Firma Hindsgaul selber zehn Jahre früher (1972) mit der Serie „Gazelle“ kreativer. Damit sind natürlich nicht nur diese flinken, schlanken und langbeinigen Tiere in der afrikanischen Serengeti gemeint, sondern auch die „Ghazala“, oder „Ghuzela“, wie sie je nach Dialekt im arabischen Raum genannt werden, d.h. die anmutigen, lieblich anzuschauenden weiblichen, zweibeinigen, wie Gazellen sich bewegenden Wesen dieser Gattung, welche wir Menschen nennen. „Ghazala“ ist im Arabischen ein Kosewort für eine besonders attraktive Frau. „La femme“ ist so nüchtern, so ohne Adjektiv.

Vor über fünf Jahren kaufte ich mir günstig meine erste „La femme“ im Internet und als ich sie bei mir zuhause genauer unter die Lupe nahm, hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Der Blick wirkt auf mich leicht hypnotisch, fern, wie abwesend und die Nasenflügel erinnern mich ein wenig an die Nüstern eines Pferdes. Diese haben ja auch eine Körpersprache, was hiesse: Alarmzustand, bereit zur Flucht!
Körpersprache von Pferden (tiergesund.de)
Während eine Sammlerkollegin mir wenig später von der „La femme“ in den schwärmerischsten Worten über die Schönheit dieser Figuren deren Vorzüge aufzeigte, war ein Kollege der selben Meinung wie ich, meinte sogar zynisch und ziemlich trocken, dass die asiatische Kopie der Billigmarke Loutoff von der Hindsgaul „La femme“ Nr. 8812 sogar schöner sei als das Original… (siehe Link).
Im hier verlinkten Blogbeitrag ist der ROS2-Klon dem Original von Hindsgaul (Nr. 8812) gegenübergestellt.
Vor rd. zwei Jahren sah ich ein Insert im Internet und ich erkannte auf dem Bild sofort, dass es eine „La femme“ sein musste – durch die Merkmale von Augen, Nase, Mund natürlich unverkennbar! Als ich dann bei der Verkäuferin in Basel vor der Figur stand, entdeckte ich plötzlich etwas, was ich vorher nicht gesehen hatte und ich auch kaum in Worte fassen kann (siehe weiter unten).

Die Figur von Hindsgaul „La femme“ mit der Seriennummer 8813 (links im Bild der Katalogseite, siehe oben) nimmt eine faszinierende, ausdrucksstarke Pose ein. Das rechte Bein angehoben, auf einem Quader abgestützt, mit einem Blick, welcher das gewonnene Selbstbewusstsein der Frau der frühen 80er-Jahre repräsentiert. Das war genau das Signal, die Botschaft und das Entscheidende, im Unterschied zu sämtlichen Serien der damaligen Vergangenheit. Die Frau im neuen Jahrzehnt durfte cool, unnahbar, eigenständig und unabhängig sein. Die noch angepasste, stille Prinzessin Diana, Gemahlin von Prinz Charles, heiratete 1981. Sie wurde später für viele Frauen zur Identifikationsfigur, worin auch der Anspruch nach Gleichberechtigung, d.h. Emanzipation und Mündigkeit sich in einer ganzen Kette an neuen Bedürfnissen widerspiegelte. Die „La femme“, die souverän über die Schulter schaut, den Blick abwendet, strahlt erstmals diese Unnahbarkeit aus, welche sich von zuvor produzierten Schaufensterfiguren aller Marken unterscheidet. Die „La femme“ ist sodann stellvertretend für eine Zeitenwende, nach welcher die Frau sich innerhalb unserer Gesellschaft anders und mit viel mehr Gewicht (sprich Mitspracherecht) einbrachte; und wenn man aus diesem Blickwinkel den Artikel „La“ auf der ersten Silbe betont und gross schreibt, heisst es eben nicht „Die Frau“, sondern „DIE (unabhängige) Frau!“ Es ist das Signal für einen Lebensentwurf, mit völlig neuen Perspektiven, in denen das bis zu jenem Zeitpunkt so genannte „schwache Geschlecht“ (die Frau am Herd) plötzlich erstarkt, sich aus der antiquierten, konservativen Vorstellung erhebt. Die „La femme“ ist nicht einfach nur eine Puppe aus Fiberglas, sondern sie verkörpert die Morgenröte eines gesellschaftlichen Umdenkprozesses, der inzwischen weit fortgeschritten, wenn auch noch nicht abgeschlossen ist. Die Hindsgaul „La femme“ ist die allererste Schaufensterfigur, die in einer Haltung verharrt, in der sie ein zusätzliches Accessoire – in diesem Fall einen Kubus am Boden – benötigt, um ihr in ihrer Pose die nötige Aufmerksamkeit zu verleihen (natürlich auch, um den Blick auf die zum Verkauf stehende Mode zu richten).


Nachdem ich mich entschieden hatte, die 8813 definitiv in meine Sammlung zu integrieren, entdeckte ich eines Tages in einem Brockenhaus (Gebrauchtwaren) einen transparenten Plastikkubus mit Innenlicht und ohne zuerst auszumessen wusste ich intuitiv sofort, dass er für sie perfekt sein würde. Passt perfekt!

Wie man relativ gut erkennen kann, differieren die Armstellungen im Katalog weiter oben. D.h. durch die kreisrunde Schulterkupplung sind sämtliche Arme untereinander passgenau austauschbar – sogar über diese Serie hinaus, aber nur in dieser Produktionsepoche (dazu gehört z.B. „International“).

Als Nächstes entdeckte ich in ihrem Profil und in der Körperhaltung etwas sehr nachdenkliches, melancholisches. Ja, sie schien mir unnahbar, irgendwo in Gedanken weit in die Ferne schweifend, wenn nicht gerade entrückt aus dieser Welt. Erst als dieses rötlich-orange Licht, wie im Widerschein eines Feuers, ihre eigentlichen Gesichtszüge zeigte und sich die Falten des bordeauxroten Kleides aus Satin um ihren Körper schmiegten, als wäre sie einem Bild des italienischen Kunstmalers Michelangelo Merisi da Caravaggio entsprungen, verstand ich in einem noch erweiterten Bereich, welch unaussprechliche Schönheit in diesem Mannequins verborgen ist, die man entdecken und mit einem akkuraten Styling herausarbeiten kann. Mit dem Gestaltungsmittel des sog. Chiaroscuro-Effektes, kann man ausdrucksvolle Stimmungen erzeugen, was sehr gut zu dieser Figur passt.

Mit dieser Hindsgaul „La femme“ 8816 bringt der US-amerikanische Sammler Tommy das was ich nicht erschöpfend in Worte fassen kann auf den Punkt. Weil einige „La femme“-Figuren eher exaltiert wirken und die 8816 in überzogener Weise entspannte Ratlosigkeit verkörpert, will man die so in einer Zeitkapsel eingefrorenen Augenblicke mitmachen, durch Adaption von Mimik und Gestik etwas mehr von der Ausstrahlung verstehen. Die ewige Frage „Wer bin ich?“ überträgt sich da in einem fast ironischen Unterton: „Wer ist diese Schöne hier, dieses Mannequin?“ Vom Russen Serge O bekam er Antwort, denn er wusste wirklich nicht, dass er neben einer Hindsgaul „La femme“ 8816 sitzt.
Es erinnert mich ein wenig an den sog. Mannequin-Challenge Hype, der sich vor einigen Jahren über die sozialen Medien rund um den Globus ausbreitete.